Interpretation

Wenn du mit einer Jungfrau Seite an Seite liegst, wirst du sterben. - Der Vater bringt den Jungen in den Wald - Initiationsriten - Der Junge, das Kind stirbt, wenn er mit einer Jungfrau schläft - Mutter und Vater weinen - der alte Jäger - Nun, das ist kein Problem - Die Eidechse und das Feuer - Wird es jemand schaffen, die Eidechse aus dem Feuer zu holen - Schwellenraum - Töte die Eidechse und der Jüngling und die junge Frau werden leben. - Der Junge muss die Eidechse töten -der Zustand des Mutter-Seins ist auf eine bestimmte Lebenszeit begrenzt - Lilith - Blaupause des Lebens - Eine Frau opfert sich doch auf für die Familie - Vater-Kind-Beziehungen - Ein gutes Verhältnis zur Aggression - Ein Schwert ist ein Symbol der Entscheidung

Das Märchen handelt von Initiation, von Leben und Tod. Sein Sinn ist die Beschreibung einer wichtigen Lebensphase, die in unserer Kultur eher irgendwie und irgendwo geschieht. Selten mit der Bewusstheit des Sterbens und der Geburt, des direkten Zusammenhangs von Tod und Leben.

Grundsätzlich ergibt sich die Frage, ob die Kinder-Jugendlichen wirklich Geschlechtsverkehr (es ist ein Ungetüm von Wort) haben. Sie liegen nur Seite an Seite und sie bleibt über die gesamte Märchenhandlung Jungfrau.
Meine Interpretation geht davon aus, dass sie Sex miteinander hatten. Ansonsten hätte das Märchen keinen Sinn. Die prüde Umschreibung liegt wohl eher bei der deutschen Übersetzung oder/und hat seine Wurzeln in einer Christianisierung der afrikanischen Volksmärchen.

In diesem Märchen geschieht etwas sehr wichtiges. Der Vater kommuniziert mit dem Jungen zum Thema männliche Sexualität. Er weiht ihn ein: " Wenn du mit einer Jungfrau Seite an Seite liegst, wirst du sterben." "Ein Schwert wird sich in mein Herz bohren." ist der Satz des Jungen. dieser Schmerz bedeutet den Tod des Kindes in ihm. Danach wird er ein Mann sein.
Der Vater bringt den Jungen in den Wald, "er versteckt ihn". Es klingt im ersten Moment wie eine Ausgrenzung, eine Isolation, damit ihm ja nichts geschieht und er Kind bleiben kann. Bei genauerer Betrachtung gibt der Vater die elterliche Verantwortung an die Geister und Kräfte der Natur weiter. Er lässt den Jungen allein. Hier wird eine Variante von Initiationsriten sichtbar, bei denen die jungen Männer in den Wald geführt werden und dort allein bleiben. Dieses Alleinsein meint All-Eins-Sein, nicht Einsamkeit. In diesem Zustand des Alleinseins kann eine Rückbindung an die Urkräfte des Lebens erfolgen. Darin ist gleichzeitig eine harte Prüfung auf Leben und Tod enthalten. Ist der junge Mann in der Lage, sich selbst zu ernähren, es gibt kein Sozialamt. Ist er in der Lage zu überleben und schlussendlich auch eine Familie zu gründen und zu ernähren? Tod ist ein Teil der Lebensspirale. Eine ähnliche Begebenheit gibt es im "Eisenhans". Hier verbringt der Junge drei Tage allein am heiligen Brunnen. Er erhält einen goldenen Daumen und goldene Haare,

Der Junge, das Kind stirbt, wenn er mit einer Jungfrau schläft. Das ist der gute und natürliche Vorgang. Die Ausübung von Sexualität markiert einen, wenn nicht sogar den Schritt in die Erwachsenenwelt. In einer Zeit von Pille, Kondom und straffreier Möglichkeit der Abtreibung, wird diesem Schritt die Größe und Macht der Verantwortungsübernahme genommen. Schlussendlich stellt sich die Frage, ob ein Junge wirklich bereit ist, Vater zu sein, ebenso wie ein Mädchen Mutter werden kann.
Das Kind stirbt, der Junge stirbt, wieso stirbt das Mädchen nicht? Auch sie wird vom Mädchen zur Frau. Hier wird möglicherweise eine Form rigoroser Geschlechtertrennung und Frauenabwertung sichtbar: über die Sexualität von Frauen spricht mann nicht. Andererseits kann man(n) auch wohlwollend interpretieren, dass in diesem Märchen, das sehr kurz ist, der Focus auf der männlichen Sexualität liegt.

Der Junge stirbt und bleibt auch erst einmal im Tod. Mutter und Vater weinen, sie sind rat- und hilflos ...
"Ihre Schuldigkeit haben sie getan". Sie haben ein Kind bis hierher erzogen, der weitere Weg wird durch andere Mächte bestimmt. Hier erweist sich die Lebenskraft der nächsten Generation als lebenserhaltend und bewusst handelnd. Die junge Frau (ab hier ist sie für mich keine Jungfrau mehr) handelt für das Leben des jungen Mannes. Beide sind mit ihrer sexuellen Vereinigung einen Bund eingegangen, sie haben Verantwortung übernommen.
Beide jungen Menschen ahnen von Anbeginn, dass der Tod des Jungen kein wirkliches Lebensende bedeutet: Er fleht sie an, bei ihm zu bleiben, trotz der Bewusstheit des Todes und sie ahnt, dass er vielleicht wieder zum Leben erweckt wird. Sie glauben an die Kräfte des Lebens und an ihre eigenen. Unbewusste Lebenskräfte wirken, die die Kinder über die Verbote und Warnungen der Eltern hinaus handeln lassen.

Die junge Frau geht in den Wald und holt einen alten Jäger, einen Weisen, der Bescheid weiß über den Tod und das Leben. Für einen Jäger gehört Töten zum Alltag, ein Töten in Achtung vor der Kreatur und dem Tod: " Nun, das ist kein Problem." Der Tod ist kein Problem für ihn! Nun tritt die Eidechse in die Handlungsmitte des Märchens. Die Eidechse und das Feuer. Feuer ist eines der Urelemente, es wärmt und verwandelt, es kann töten und zerstören. Feuer ist ein Werkzeug der Schamanen, es verbindet die Erde und den Himmel. Es trägt Botschaften und Gebete in das Universum. Auch die Eidechse ist ein altes Symbol. In verschiedenen Mythologien ist sie ein Symbol für dunkle Kräfte, für Hexen und Drachen. Als symbolische kleine Drachen sind sie vertraut mit dem Feuer. Eidechsen sind Lebewesen, die sich in Jungfernzeugung vermehren können. Aus den Eiern schlüpfen dann allerdings nur Weibchen.

Der Junge-Mann-im-Tod wird in die Gemeinschaft des Dorfes zurück gebracht, ein Holzstoß wird errichtet und der Junge-Mann-im-Tod darauf gelegt.
Ganz sachlich beschreibt der alte Jäger die Situation: Wird es jemand schaffen, die Eidechse aus dem Feuer zu holen, lebt der Junge. Wenn nicht, geht er endgültig in den Tod.
Mutter und Vater versuchen es, doch die Flammen treiben sie zurück. Die Eltern haben hier nichts mehr zu tun.
Das junge Mädchen handelt. Sie tritt nicht heran, mit der Kraft der Jugend springt sie in das Feuer und holt die Eidechse heraus. Der junge Mann wird aus dem Bann des Todes erlöst und tritt in das Leben ein.

Dieser Bann kann auch als Schwellenraum betrachtet werden. Ein Schwellenraum ist ein zeitlich-seelisch-körperlicher Zustand, in dem ein Lebensabschnitt beendet wurde und der nächste noch nicht begonnen hat. Er kann von kurzer Dauer sein oder auch jahrelang anhalten. Manchmal bleiben Menschen im Schwellenraum stehen-hängen-liegen. Ihre Weiterentwicklung wurde durch traumatische Erlebnisse gebannt (in der ganz ursprünglichen Bedeutung des Begriffes), als sie sich im Schwellenraum aufhielten. Das Märchen scheint glücklich zu enden, doch nun kommt die große Frage und Aufgabe, die unbeantwortet bleibt. Sie muss allerdings gelöst werden, es gibt keine Nichtlösung. Egal was der junge Mann tut, es geschieht etwas. " Töte die Eidechse und der Jüngling und die junge Frau werden leben. Aber die Mutter wird sterben. Töte die Eidechse nicht, und Mutter und Sohn werden weiterleben, aber die Jungfrau wird sterben."

Es ist kein Dilemma in dem der Junge steht. Die Antwort ergibt sich ganz natürlich aus dem Lauf des Lebens, aus Gesetzen, die das Leben schreibt. Der Junge muss die Eidechse töten. Mutter und Sohn können nicht weiter miteinander leben. Er ist kein Kind mehr. Er hat seine Frau gefunden, mit der er ein Bündnis eingegangen ist und diese Frau hat ihren Teil des Bündnisses erfüllt. Sie hat ihr Leben gewagt, um seines zu retten: Sie ist zum Jäger gegangen und in das Feuer gesprungen.
Jetzt ist er aufgefordert, seinen Teil das Bündnisses einzugehen. Er muss sie vor dem Tod retten. Wenn er die Eidechse tötet, wird auch seine Mutter sterben. Ein Tabu wird berührt: die Mutter soll sterben, damit der Sohn weiterleben kann, mit seiner jungen Frau?
Ja.
Das Märchen handelt von Initiation, von den Übergängen von einem Lebenszyklus zum anderen. Dieser Übergang ist ein sterben und geboren werden. Das Leben geht weiter seine Pfade.
Der Zustand des Mutter-Seins ist auf eine bestimmte Lebenszeit begrenzt und Kinder dürfen ihren Müttern zu gestehen, dass es nach dem Muttersein einen neuen Lebensabschnitt gibt: wieder Frau sein zu dürfen, verantwortlich für sich selbst und nur für sich selbst. Die "Mutter" muss sterben, damit das junge Paar ihr Leben aufbauen kann. Der Lebenszyklus der Frau, die vor 18, 20, 25 Jahren ein Kind geboren hat und es bis hierher begleitet hat, geht zu Ende. Der Sohn muss handeln, er muss die Eidechse, die Verbindung, zur "Mutter" durchtrennen. Mit einem Schwertschlag muss er die "Mutter" töten. Er muss sich abnabeln. Nicht in dem er noch einen Kuchen bäckt, die Mutter zum Essen einlädt, Danke sagt, Blumen kauft, sondern: KRSCCH!

Die Mutter muss es ertragen, mit ansehen, sie hat keine Macht mehr. Unvorstellbar in unserer christlichen Kultur, mit der heiligen Mutter Maria als fast einzigem Mutter-(Frauen)vorbild. Lilith wurde ja schon vor Jahrtausenden verbannt und dämonisiert. Und gleichzeitig ist dieser Schlag so notwendig, um Klarheit in Beziehungen zu bringen, Klarheit in die Generationen, die durch die letzten Kriege und den "Softie der Sechziger" gewaltig durcheinander gewirbelt wurden. Muttersöhne en masse, die nicht "in ihrer Kraft" sind, die nicht in der Lage sind, ihre Frau zu finden, die ihre Kinder nicht halten können, die weiterhin einen dicken Draht zu Muttern haben, obwohl sie meilenweit weg wohnen und eigene Familien haben. Interessant ist die Frage, ob diese Thematik irgendwie relevant ist, wie viele Mutter-Sohn-Beziehungen existieren. Nach Auskunft des Sächsischen Landesamtes für Statistik leben 15% der Jungen in Sachsen bei alleinerziehenden Müttern und etwa 30% aller alleinlebenden Kinder über 27 Jahre leben bei ihren Müttern. Diese Kinder sind oft junge Männer. Die Ablösung von der Mutter ist für die jungen Frauen allerdings ebenfalls notwendig. Weshalb?

In jedem Menschen steckt ein eigener Lebensplan, eine Blaupause. Mit diesem Lebensplan wurde er geboren. Er bestimmt seine Entwicklung und reibt sich an den Erfordernissen des Alltags. Diese Erfordernisse sind zur Zeit geprägt von dem Streben nach Geld. Um Geld zu haben braucht man(n) und frau Arbeit, um Arbeit zu haben braucht es Ausbildung und diese muss sehr früh beginnen. Diese Sichtweise hat zur Folge, dass die Seelen der Kinder noch im Sandkasten sitzen, wenn die Körper und Köpfe der Erwachsenen schon weit oben auf der Karriereleiter stehen und Geld verdienen. Die Einheit von Körper und Seele wird gespalten. Die Auswirkungen spüren wir gerade in der aktuellen globalen Krise. Es geht nicht um Geld, sondern um eine Verzerrung von menschlichem Leben nach Erfordernissen des Geldmarktes.

Diese Verzerrungen führen zu Krankheiten, seelischen Einsamkeiten, zerstören soziale Netzwerke und tragen so zu den Verzerrungen und Verwischungen der Generationengrenzen bei. Die Erfordernisse einer menschlichen Entwicklung von der Eizelle bis zum Tod werden pervertiert bzw. geraten vollständig in Vergessenheit. Menschen geben immer mehr Fähigkeiten an Maschinen ab und bleiben dadurch in kindischen Zuständen. Konsumieren ist ein kindischer Zustand und weit weg von erwachsenem, verantwortungsbewusstem Handeln. Menschen haben mit ihren Händen große Kunstwerke geschaffen und möglicherweise auch die Pyramiden einfach so, ohne außerirdische Hilfe. Sie konnten es einfach. Die Erfordernisse des Lebens erzeugen Vielfalt und Buntheit, die Erfordernisse des Geldes Banalitäten, Einförmigkeit und Grau. Phantasia stirbt. Doch gerade Phantasie ist eine zu tiefst menschliche Fähigkeit.

Diese Verzerrungen wirken auch in den Generationengrenzen. Mütter und Frauen erziehen in diesem Land Kinder, sie tragen den Hauptteil, die Hauptlast. Es ist ihr Anteil in den kulturellen Vereinbarungen zwischen Männern und Frauen. Das Männer ihr Vatersein leben können, nimmt zu. Allerdings immer noch sehr marginal. Ein Mann der ernsthaft Vatersein lebt, d.h. seine Kinder über die Erfordernisse des Arbeitsalltags stellt, wird als Verräter betrachtet. Von den Geschlechtsgenossen und Vorgesetzten, da er aus der Malocheschiene austritt und von denjenigen Frauen, die immer noch erwarten, dass Männer das Geld nach Hause schaffen und ihren Lebensunterhalt verdienen. UND es ist für Kinder und die Väter sehr erfüllend und bereichernd, wenn die Väter diese Lebensphase ausfüllen.

Eine menschliche Eigenschaft ist es, in Krisensituationen eher auf Altbewährtes zurück zu greifen, anstatt das Alte zurück zu lassen und mutig Neues anzufassen. So kommen auch Mütter aus ihren Rollen nicht heraus, wollen oder können nicht bei sich selbst ankommen: Eine Frau opfert sich doch auf für die Familie! Das gibt ihr Rückendeckung und Halt in der Gesellschaft.
In der Mutterrolle ist im besonderen auch eine große Macht verankert.

Allerdings braucht unsere Gesellschaft Frauen (und Männer), die zu ihrer eigenen Lebensenergie, zu ihrer Lebenslust und ihrer Sexualität stehen. Das Leben braucht sie, die Spiralgänge des Lebens und ihre Töchter und Söhne und ihr Mann.
Denn auch er verlässt den Zustand des Vater-Seins, um den Sohn in seinem erwachsenen Leben ankommen zu lassen. Das Märchen bietet hierfür keine Lösung an. Daraus könnte man(n) und frau schlussfolgern, dass diese Ablösung weniger traumatisch verläuft.
Das erweist sich als Trugschluss, da viele Vater-Kind-Beziehungen eher dramatisch ab- oder klarer beschrieben, ins Leere laufen. Die Väter fehlen den Kindern im Alltag. Im Alltag lernen Kinder leben, lernen Jungen ihren Mann zu leben.
Das Fehlen hinterlässt Fehlstellen, Sehnsüchte, berechtigte Wut und Zorn, die Jungen und Männer suchen sich dann Reibungsflächen bei Erziehungsinstanzen, mit der Polizei, untereinander... die Jungen haben keinen Vater erlebt und können später selbst schlecht Vater sein oder sind dann wieder mit ihren eigenen Sehnsüchten konfrontiert. Auch Väter, die arbeiten, fehlen den Kindern. Das Fehlen ist nicht die Schuld der Väter, sondern Teil der kulturellen Vereinbarungen zwischen Männern und Frauen.
Damit der Sohn diesen Schlag führen kann, muss er mit einem guten Verhältnis zu seiner Aggression aufgewachsen sein. Er darf keine Angst haben, sein eigenes Leben zu leben, er muss fähig sein, sich versorgen zu können. Dazu muss er sein Schwert gut führen können. Ein Schwert ist ein Symbol der Entscheidung, es kann scheiden zwischen gut und böse, zwischen Freund und Feind und es symbolisiert Macht. Es ist eine Nahwaffe und ist damit nur in einer direkten Begegnung und Auseinandersetzung führbar.
Das Symbol des Schwertes steht für die Fähigkeit, Grenzen ziehen und bewahren zu können. In direktem Zusammenhang mit der Aggression steht auch die Sexualität des jungen Mannes. Kann er seine Potenz leben, hat er einen Zugang zu ihr? Potenz bezieht auch seine körperlich-geistig-seelische Macht mit ein.

In den Verwaschungen der Generationsgrenzen bilden sich auch Verzerrungen der Sexualität heraus. Ein Sohn, der zu nah bei der Mutter aufwächst, ist ob seiner Liebe und Körperlichkeit möglicherweise gebannt, wenn er in die Pubertät eintritt. Einige dieser jungen Männer können ihre Sexualität nicht ausprobieren und leben, da sie ja schon eine "Frau" haben. Andere leben ihre Sexualität, allerdings ohne die Möglichkeit einer intensiven Nähe-Erfahrung, auch aus dem selben Grund.
Als Mann trennt er Liebe und Sex, und kann es nicht einmal reflektieren. Er ist nahtlos hinein gewachsen, seit frühester Jugend. In der sexuell-körperlichen Entwicklung fehlen die Väter den Jungen besonders.
Wenn der Sohn den Mut hat, diesen Schlag zu tun, stirbt nur das Symbol "Mutter-Vater-Sohn". Die Menschen leben weiter, befreit und aufrecht. Tut er es nicht, erstarrt alles, gebannt im Schwellenraum, aus Angst vor dem Leben.

 

 

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